Um das in angesagter Meme-Sprache zu formulieren: „Wie sehr können unsere Glaubenssätze in Stein gemeißelt sein?
Die Menschheit: „JA“.
Wir verlassen uns auf unser Weltbild, auf unsere Moralvorstellungen, auf unsere Traditionen, auf unser Gesellschaftssystem, auf unser Wertesystem und auf unsere Sprichwörter, die wir gerne auch „Volksweisheiten“ nennen. Wir halten all diese Dinge keineswegs für Konstrukte, sondern für gottgegeben und von unseren Vorfahren oder Autoritätspersonen erprobt und für gut befunden. Oft halten wir sie aber auch für unsere eigene Meinung. Wo kommen sie aber wirklich her? Inwiefern sind sie unser ganz eigenes geistiges Eigentum und inwieweit sind sie unbewusst und deswegen vorbehaltslos von übernommen und uns an-ge-eignet (sich zueigen gemacht) worden?
Meiner Meinung gibt es eine evolutionsbedingte, eine systemische und eine psychologisch-geistige Erklärung.
Evolutionsbedingt ist es ja so, dass der Lernprozess nur stattfinden kann, wenn wir unsere Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen kategorisieren. „Großes Tier: gefährlich. Beeren von diesem Strauch: lecker. Ins Feuer fassen: tut weh“ und so weiter. Dieses im wahrsten Sinne vorsintflutliche Schubladendenken erspart uns wertvolle Reaktionszeit und kann lebensrettend sein: wenn uns ein Wolf verfolgt und wir erst hinterfragen „Vielleicht ist ja gerade dieses Wolfsexemplar nicht gefährlich und läuft uns nur aus Spaß hinterher“, werden wir höchstwahrscheinlich gefressen. (Obwohl man ergänzend erwähnen muss, dass bei genauerem Hinsehen auch in der Natur nicht die Norm, sondern gerade die Abweichungen davon, sogenannte Mutationen, zu wertvollen Weiterentwicklungen führen).
Was unser System angeht, sieht es natürlich schon komplexer aus, denn das Schubladendenken hat keine direkte lebensrettende Funktion mehr, sondern für die einen eher eine psychologische, identitätsstiftende, und für die anderen eine manipulative. Und zwar diejenigen uns lenkenden Individuen mit stark ausgeprägten parasitären Neigungen, die die einfachen Evolutionsmechanismen auf alle Formen des Zusammenlebens und des Umgangs der Menschen miteinander übertragen und sie somit von der instinktiven auf eine psychologische Ebene der Wahrnehmung heben – dabei spielen ihnen die Gruppendynamiken in die Karten, sodass man bestimmte Glaubenssätze nur noch in Umlauf bringen muss – durch die frühzeitige Formung der Kinder und die spätere Prägung der Erwachsenen durch Medien übernehmen die Menschen die Schubladendenkweisen ganz automatisch.
Es geschieht folgendermaßen: schon in der Schule werden wir dazu angehalten, Informationen, die uns von Autoritätspersonen vermittelt werden, als gegeben aufzunehmen und diese beispielsweise während der Schulaufgaben wiederzugeben. Mit Glück haben wir dann im Studium kurzzeitig etwas mehr Raum für Eigeninterpretationen. Mein Professor in Pädagogik war allerdings ein Antibeispiel, denn er wollte stets ausschließlich von ihm vermittelte Inhalte und Lehrmethoden präsentiert bekommen – Alternativlösungen wurden mit schlechten Noten „belohnt“, unabhängig davon, ob sie sinnvoll waren.
Auch nach dem Studium, im Arbeitsleben, wird von uns weiterhin verlangt, uns anzupassen und zu fügen, wenn wir die Arbeitsstelle erst überhaupt bekommen, und später dann nicht verlieren wollen. Unser Weltbild beziehen wir von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, und die Informationen über unsere aktuelle Lage vor allem aus den Medien, die mit Schlagzeilen Aufmerksamkeit erregen und somit ihre Auflagen verkaufen wollen. Auch Filme prägen unser Weltbild sehr, sowie all die anderen Dinge, denen wir uns anschließen, weil wir gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dass diese Dinge nicht anders gesehen werden können und dürfen.
Die psychologisch-geistige Komponente ist natürlich auch nicht zu unterschätzen. Es scheint so, dass der Mensch einen Glauben braucht. Nachdem wir in einer der säkularisiertesten Gesellschaften überhaupt leben und die staatlich anerkannten Kirchen ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren haben, fehlen den Menschen viele Orientierungshilfen und auch ihr angeborenes Bedürfnis, an etwas zu glauben, wird nicht mehr gestillt. Deswegen greifen so viele Menschen unbewusst auf Glaubenssätze, Maximen und Dogmen zurück, die ihnen das Gefühl der Sicherheit vermitteln und ihnen eine Richtlinie und eine Identität verleihen.
Dabei wissen wir doch eigentlich aus dem Lauf der Geschichte,
dass viele Glaubenssätze, die teilweise jahrhundertelang als unumstößlich galten, irgendwann durch neue Erkenntnisse abgelöst wurden, die am Anfang dieses Ablösens auch noch bekämpft und deren Verfasser angefeindet und umgebracht wurden (Jesus und auch Galileo sind nur zwei der vielen Beispiele). Der Mensch tut sich unfassbar schwer, für ihn selbstverständliche Denkmuster zu verlassen, denn dieser Vorgang löst in ihm oft Unsicherheit und Angst, statt Neugier und das durchaus positive Gefühl, sich weiterzuentwickeln, aus.
Das Festhalten an Glaubenssätzen wird zum Selbstzweck. Die Menschen identifizieren sich zu 100% mit ihren Glaubenssätzen und bewerten diese auch moralisch höher, als anders beschaffende Glaubenssätze, aber das ist noch nicht alles. Durch die moralische Bewertung steigt die Legitimation, andere Meinungen zu diskreditieren und Menschen, die diese Meinungen vertreten, anzugreifen und abzuwerten, ihnen gar ihre Menschlichkeit abzusprechen. Das führt wiederum zu erhöhter Konfliktbereitschaft, was besonders dann absolut widersinnig ist, wenn es dabei z. B. um den Frieden oder das Wohlergehen der Menschheit geht. Dieser Widersinn ist dem moralisch Überlegenen aber keineswegs bewusst, denn „der gute Zweck“ heiligt bei ihm nicht nur die Mittel, sondern macht diese Mittel indiskutabel.
Warum ich das alles überhaupt erwähne?
Im Laufe der letzten Zeit sind mir eben auch ein paar der allgemein anerkannten und populären Sprichwörter/Redewendungen aufgefallen, die dieses „In-Stein-Gemeißelt-Sein“ sehr gut repräsentieren, mir aber durchaus des „In-Frage-Stellens-Würdig“ erscheinen. Heute möchte ich über „Der Klügere gibt nach“ reden.
Los gehts! Dinge in Frage zu stellen ist super wichtig!
DER KLÜGERE GIBT NACH
Meine erste Assoziation mit diesem Spruch ist tatsächlich aus dem christlichen Bereich. Eigentlich soll doch dieses Sprichwort ursprünglich das Gegenteil zum alttestamentlichen Vergeltungsprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ darstellen, denn ohne Menschen, die deeskalierend wirken, hätte die Welt überhaupt keine Augen und keine Zähne mehr. Das sieht man auch in der heutigen Zeit wieder sehr deutlich, wieviele Menschen und Institutionen auf diesen uralten Mechanismus reinfallen und meinen, das wäre die Lösung. Slogans wie „Diskriminierung diskriminieren“ und Vorgänge wie Waffen in Kriegsgebiete liefern, um den Frieden zu erreichen, belegen das. Leider ist es eine Illusion, dass man Leid vermeiden kann, indem man „für den guten Zweck“ die Schuldigen (oder die man für schuldig hält) leiden lässt. Leid und Leid = doppelt so viel Leid. Krieg und noch mehr Waffen = noch mehr Krieg. Diskriminierung gegenüber den Diskriminierenden = noch mehr Diskriminierung. Diese Rechnung ist eigentlich ganz einfach: wenn ich jemandem den Zahn ausschlage, wächst meiner leider nicht wieder nach, sondern die Anzahl der Zähne verringert sich weiter… Die vermeintliche Befriedigung ist nur eine Illusion, denn sie muss bei neuem Leid immer weiter durch neue Rache gefüttert werden, sodass auf diese Weise das Leid vermehrt statt dezimiert wird.
Im neuen Testament sagt Paulus
„(…) 17 Vergeltet niemals Unrecht mit neuem Unrecht. Seid darauf bedacht, allen Menschen Gutes zu tun. 18 Soweit es irgend möglich ist und von euch abhängt, lebt mit allen Menschen in Frieden. 19 Liebe Freunde, denkt daran, dass es nicht eure Sache ist, euch selbst Recht zu verschaffen. Überlasst dieses Urteil vielmehr Gott 4, denn er hat gesagt: «Es ist allein meine Sache, Rache zu nehmen. Ich werde alles vergelten.» 5 20 Handelt so (…): «Wenn dein Feind hungrig ist, dann gib ihm zu essen; ist er durstig, gib ihm zu trinken. So wirst du ‚feurige Kohlen auf seinem Haupt sammeln‘, du wirst ihn überwinden.»6 21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute. (…)“
Diese Lösung finde ich genial, denn so muss der Mensch nicht auf sein Gerechtigkeitsgefühl verzichten und gute Miene zum bösen Spiel machen, und dennoch muss er aber er wird dazu angehalten, es nicht selbst auszuüben, sondern die ganze Sache weiterzuleiten und abzugeben.
„Wie du mir, so ich dir“ führt also keineswegs zum Weltfrieden, den wir angeblich alle so sehr wollen.
Dennoch habe ich etwas gegen das Sprichwort „Der Klügere gibt nach“, denn nachgeben ist für mich bei Weitem nicht immer die klügere Wahl. Durch das Nachgeben und Mitmachen finden immer wieder die größten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen statt. Ja, wer klug ist, der lässt sich nicht provozieren, aber eine gewaltfreie Konfliktbereitschaft ist durchaus sehr wichtig.
„Der Klügere gibt nach“ wird meines Erachtens von den Mächtigen dieser Welt geschickt instrumentalisiert, denn wer mit diesem Spruch aufwächst und ihn nie hinterfragt, macht nicht nur freiwillig, sondern auch noch mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit den Weg für alle möglichen Missstände frei.
Wenn die Klugen immer nachgeben, können die Dummen – oder die Skrupellosen – ungestört regieren.
Manchmal allerdings muss man auch nachgeben – zum Beispiel, wenn der Frühling kommt und man gerne eine neue Jacke hätte :D Ich bin bei steigenden Temperaturen auch jedes Jahr aufs Neue modisch motiviert! Hier* fand ich ein paar hübsche Jackenexemplare <3
Und ich wünsche uns allen, dass im Frühling nicht nur unsere Liebe zur Mode wiedererwacht, sondern auch unsere Liebesgefühle zu unseren Mitmenschen, sodass wir uns gegenseitig trotz all der Unterschiede nicht mehr verurteilen, sondern das Menschliche hochhalten.
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*Werbelink