Loser und Winner
„Das eigentliche, tiefe Problem der Gesellschaft liegt darin, dass sie in „Loser“ und „Winner“ unterteilt wird und sich auch selber unterteilt.“, meinte P. neulich zu mir.
„Winner“ sind dabei diejenigen, die einer bestimmten Definition von „Erfolg“ entsprechen, und „Loser“ sind all die anderen. Wenn dann einer von den Losern jemanden von den Winnern zu kritisieren wagt, kommt sofort das Neid-Argument.
Wer in unserer Gesellschaft darf eigentlich
Kritik üben,
die ernstgenommen wird? Ich habe das Gefühl, dass es nur diejenigen sind, die der Norm entsprechen, die da wäre: ein Mensch, der sich all seinen Erfolg selbsttätig erkämpft hat, gemäß dem Spruch „Der Erfolg gibt ihm recht“.
Das heißt eigentlich, dass die „Erfolgreichen“ unserer Gesellschaft sich selber von Kritik schützen, indem sie denen, die sie als „Loser“ einstufen, das Recht auf Kritik absprechen, den Kritisierenden unmündig machen. „Du maulst nur rum, weil du unzufrieden bist“ kann nur jemand sagen, der sich abgrenzt und nichts mit real existierenden Problemen zu tun haben will, nur weil das nicht seine sind. Dass so ein Verhalten nicht dem Ideal einer Integrität und Solidarität entspricht, will ein erfolgreicher Bürger (nachfolgend „Winner“ genannt) natürlich nicht hören.
Aber wovor haben eigentlich Winner Angst, wenn man sie kritisiert?
Was verlieren sie, wenn sie die Kritik gelten lassen?
Vielleicht davor, dass einige von ihnen dann zugeben müssten, dass ihr Erfolg manchmal gar keinen ehrenwerten Charakterzügen oder Handlungen entspringt? Oder davor, dass das bestehende System, was für sie gut funktioniert, aufgeweicht wird und die Trennlinie zwischen „Winnern“ und „Losern“ verwischt? Warum muss man denn seine Identität auf Erfolg gründen und nicht beispielsweise auf der Fähigkeit, Mitgefühl, Toleranz und Solidarität zu leben?
Ich denke, das kann man damit erklären, dass der ignorante Weg gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern auch hoch geschätzt und zudem auch einfacher ist. Es ist zwar auch für die Winner nicht leicht, sich mithilfe der Ignoranz zu behaupten, weil die Aufrechterhaltung der Ignoranz (genauso wie die Aufrecherhaltung der Toleranz) auch Kraft kostet. Allerdings glaube ich schon daran, dass hier Übung den Meister macht und mit der Zeit die Abstumpfung zunimmt und die Oberarmmuskeln wachsen – kein Wunder bei ständigen Ellenbogenbetätigung. Das heißt, es wird leichter. Wer den Weg des Winners einmal bewusst eingeschlagen hat, wird mit der Zeit immer gefestigter. Und die Umgebung bestätigt den Winner in seinem Tun, weil die meisten es bewundern und sich als Vorbild nehmen, und die anderen die Wahrheit nicht auszusprechen wagen, die da hieße: für den Werdegang eines Winners spielt seine Korrumpierbarkeit eine große Rolle.
Totschlagargument des Neides
Oh ja, ich höre schon die Winner schreien: „Das sagst du doch nur, weil du selber ein schwacher und uncooler Loser bist! Du bist doch einfach nur neidisch!“ – und tatsächlich:
hat sich ein Winner schonmal darüber ausgelassen, dass er sein „Winnertum“ einer verkorksten Gesellschaft zu verdanken hat, die es nötig hat, die unendlich vielfältigen Menschenleben und Charaktere mit Etiketten zu versehen und in Schubladen zu verstauen, aus denen rauszukommen nur ganz wenigen gelingt?
Eine Hand wäscht die andere
Wohl kaum: denn die Winner kritisieren keine Winner. Eine Hand wäscht die andere. Wenn die Winner gerade mal nicht damit beschäftigt sind, ihren Gewinn noch zu maximieren, haben sie schlichtweg keine Lust, am eigenen Ast zu sägen und die eigene Position zu hinterfragen. Warum denn auch? „Wir sind stolz auf unsere Leistung und mit uns selbst im Reinen! Kritisieren ist was für Loser“, denken die Winner, „die haben doch ein Problem, nicht wir!“.
Somit wären wir wieder am Anfang meiner Ausführungen. Die „Winner“ sprechen den „Losern“ das Recht auf ernstzunehmende Kritik ab und sind damit auf der sicheren Seite.
Loser besitzen die Freiheit zur Wahrheit
Aber, liebe Winner, wie wäre es denn mit dem Gedanken, dass die Loser nicht deswegen kritisch sind, weil sie auf euch neidisch sind, sondern, weil sie nichts zu verlieren haben und deswegen die Freiheit besitzen, die Wahrheit sagen zu können? Oder sogar andersrum – dass sie zum Teil auch deswegen „Loser“ sind, weil sie eben die Wahrheit sagen? Nicht die populäre Art von Wahrheit, die die Menschen (meist gegen jemanden oder etwas) vereint und im Chor singen lässt „Wie wahr, wie wahr, endlich sagt es mal einer“, sondern die ECHTE, unangepasste, unbequeme, scharfkantige und stinkende? Eine, die sich gegen uns alle richtet und uns alle betrifft, auch die Winner?
Denn ja, auch ich unterliege dem stahlkäfigartigen Zwang, erfolgreich sein zu wollen, auch ich möchte kein „Loser“ sein – und dabei weiß ich genau, dass ich in Wirklichkeit ein Winner bin – aber in anderen Disziplinen und mit anderen Eigenschaften, als die, die vom Erdenbürger als typische Winner-Eigenschaften gewertet werden.
War es früher besser?
Nein, ich lamentiere nicht à la „Dieser Werte-Verfall heutzutage!“, denn die Werte sind nicht „aus der Mode“ gekommen. Sie waren noch nie in Mode! Man könnte meinen, dass im 19. Jahrhundert, als die Menschen sich wegen einer Beleidigung duellierten und ein ausgeprägtes (vielleicht auch übertriebenes) Ideal der Ehre hatten, ich vielleicht eher ein „Winner“ wäre als heute – aber es kann sein, dass diese Vorstellung naiv und romantisierend ist. Denn auch damals war es mit der Ehre schnell vorbei, wenn es um Vorteil und Erfolg ging.
Klar hat unsere Zeit ihre spezifischen Auswüchse – wie die überdimensionale Egomanie, die in früheren Jahrunderten in der Form vielleicht nicht existierte. Vielleicht ist diese Egomanie wegen der Überbevölkerung und wegen der immer schneller werdender Lebensweise entstanden – denn wenn wann nicht laut schreit „Hier bin ich und ich bin toll“, wird man im Überfluss aller möglichen Berufe und Menschenfluten höchstwahrscheinlich übersehen. Aber man müsste auch nicht immer die anderen, die im Weg stehen, wegtrampeln, um auf sich aufmerksam zu machen.
Wie heißt es nochmal so schön?
Nicht was er mit seiner Arbeit erwirbt, ist der eigentliche Lohn des Menschen, sondern was er durch sie wird.
John Ruskin
14 Comments
Eva
11. September 2016 at 10:42Was für ein toller und ehrlicher Post, liebe Esra. Ich bin gerade total geflasht von diesem Post und deiner Art die Dinge zu sehen, es regt zum Nachdenken an, und irgendwie kommt man dabei zu keinem positiven Resultat, du hast nämlich total recht und das ist ultra schade!
Liebe Grüße
Eva
http://www.eva-jasmin.de
Esra Blog
11. September 2016 at 12:34Liebe Eva, danke sehr!
Ich wollte mit dem Post niemanden runterziehen, man kann den Post sich ja auch zunutze machen – zumindest ist jeder, der ihn liest, gegen die „Du bist bloß neidisch“-Unterstellung gewappnet :)
lg
Katha
11. September 2016 at 11:10Liebe Esra, ich bin ganz hin und weg von deinem Artikel und deiner Art dich auszudrücken! Besonders gefallen und zum Nachdenken angeregt hat mich die Passage, dass die Werte nicht verfallen, sondern nie wirklich in Mode waren. Weiter so!
Liebe Grüße,
Katha
http://www.hirschkind-blog.de
Esra Blog
11. September 2016 at 12:39Liebe Katha, vielen Dank!! Ich denke halt, dass die Menschen früher nicht wirkich „besser“ oder „schlechter“ waren… Der Zeitgeist ändert sich, die Menschen wohl nicht so :D Hehe .
lg
Christina
11. September 2016 at 13:32Liebe Esra,
ich bin seit kurzer Zeit eine Leserin deines Blogs. Wenn auch bisher etwas still. Ich habe mich seit deiner Ankündigung auf Instagram, zu diesem Post, tatsächlich gefreut und war gespannt wann ich heute deine Meinung zu dem Thema lesen darf. Normalerweise lese ich Blogs eher sporadisch, muss aber zugeben, dass ich mich über alles Neue auf deinen Kanälen freue. Ich finde diesen Beitrag sehr ehrlich und fühle mich einfach darin bestätigt, dass du zu den authentischsten Bloggern gehörst. Klingt vielleicht alles etwas kitschig, aber ich bin froh dich zwischen den vielen anderen Blog gefunden zu haben. Es macht einfach Spaß deine Beiträge von Mode bis zu ernsteren Themen wie diesen zu lesen. :)
Ganz lieben Grüße aus Bonn
Christina
Esra Blog
11. September 2016 at 13:36Liebe Christina, vielleicht klingt auch meine Antwort etwas kitschig, aber solche Kommentare wie deiner machen das Bloggen bloggenswert, mir wird ganz warm ums Herz <3 <3 <3
Vielen vielen Dank dafür <3
Ganz liebe Grüße zurück!!
Franziska Elea
11. September 2016 at 18:32Loser schreibt man mit einem O…
Esra Blog
11. September 2016 at 18:34Danke Süße <3 Lieb von dir! Hab ein photographisches Gedächtnis und habe es überall nur so gelesen ;)
lg
Lynn
12. September 2016 at 13:10Toller Artikel, liebe Esra! Die Karriere-Karte würde ich gerne mal an einige Leute weitergeben haha :)
Liebe Grüße aus Köln
Lynn | http://www.nexttolondon.com
Esra Blog
12. September 2016 at 13:26Vielen Dank, liebe Lynn! Hehe, ja, das verstehe ich :D
lg
Charli
12. September 2016 at 14:10Hallo Esra,
ich bin wahrscheinlich noch ein bisschen zu jung um alles richtig zu verstehen, oder beurteilen zu können. Aber ich weigere mich (noch) entschieden die Angepassten Winner zu nennen.
Ich nehme mal das Beispiel Schule, dort sind auch diejenigen am Erfolgreichsten, die immer schön brav machen, was der Lehrer sagt. Also ich bin jetzt kein Rebell, aber ich habe eine Meinung und die vertrete ich auch, wenn ich überzeugt bin. Darum werde ich auch kritischer beäugt und muss oft besser sein. Ich nehme das immer als Herausforderung, aber ich kann mir natürlich auch vorstellen, dass dies auf Dauer anstrengend ist. Und wenn es um die Existenz geht, ist es sicher auch nochmal anders. Ein sehr schweres Thema!
Ich finde es allerdings prima, dass du solche Dinge ansprichst und die Menschen zum Nachdenken anregst. Du bist eine Bloggerin mit Charakter sozusagen! :)
Liebe Grüße
von Charli
Esra Blog
12. September 2016 at 18:55Liebe Charli, danke für deinen Kommentar!
Ich finde es schön, was du sagst – und ich benutze das Wort „Winner“ ja auch nur, weil diese Menschen von der Gesellschaft so empfunden werden und sich auch selbst so fühlen. Das heißt nicht, dass ich das persönlich denke, vor allem – dann müsste man ja erst „Gewinnen“ definieren. Das kann ja für verschiedene Menschen verschieden Dinge bedeuten…
Wenn du konkrete Fragen hast – stell sie einfach :)
lg
pi
20. September 2016 at 11:09grandioser text. und sehr, sehr wahr. you go girl!
diese einteilung in vermeintliche „winner“ und „loser“ ist dabei wirklich das kernproblem: statuswettbewerb ist detrimental zu echtem menschlichen miteinander.
das gilt sowohl für statuswettbewerb bezüglich aussehen, coolness, tollen klamotten, erfolg und follower-zahlen als auch für status-wettbewerb um intelligenz, eloquenz und moralische überlegenheit. sich gegenüber anderen profilieren und besser stellen zu müssen ist immer ein zeichen von unsicherheit, und sich darüber zu definieren und daraus selbstwert zu beziehen ist ein sicherer weg, diese unsicherheit und unzufriedenheit noch zu verstärken. echte innere stärke beweist, wer sich nicht über andere stellen muss, deswegen plädiere ich dafür, kritik und sarkasmus gegen das system zu richten, nicht gegen menschen (das ist so viel schwerer, als es sich anhört, aber du hast hier gezeigt, wie es geht!).
das neid-totschlagargument wird oft herausgeholt, wenn sich jemand angegriffen und in seinem selbstbild hinterfragt fühlt (oder in seinem platz im system, über den er sich definiert). wenn das passiert, sind die fronten meist schon so verhärtet, dass ein konstruktiver kommunikativer austausch eh nicht mehr möglich ist.
wenn man wirklich konstruktiv diskutieren und etwas bewegen will, liegt der balanceakt darin, dass das gegenüber sein gesicht wahren kann und sich wertgeschätzt fühlt und aus dieser sicheren position ermutigt wird, dinge neu zu betrachten, die er bis jetzt vielleicht nie hinterfragt hat, nicht hinterfragen wollte, oder sich nicht getraut hat.
voll der eiertanz!. aber der lohnt sich, wenn man nicht nur recht haben und überlegen sein, sondern eine wertschätzende diskussion führen und dinge bewegen will <3
Esra Blog
20. September 2016 at 13:17Liebe Pi, vielen Dank für deinen Kommentar!
Du hast einen wichtigen Punkt angesprochen – nämlich die persönliche Auseinandersetzung zu dem Thema. Da ist es wirklich wichtig, dass sich beide Gesprächspartner geschätzt fühlen, weil so ein Thema natürlich sofort auf sich selbst bezogen wird. Darüber zu diskutieren, erfordert nicht nur einen WILLEN, viel Einfühlungsvermögen und Respekt, sondern auch einen gewissen Grad an Reife, denke ich… Bei so vielen Faktoren ist es leider oft nicht möglich, konstruktiv über das Thema zu diskutieren… Aber ich verliere die Hoffnung nicht!
Ganz liebe Grüße!